Wieviel Körper brauchen wir zum Glücklich-Sein?

„Jetzt ist es Zeit, sich auf die Matte zu legen und den Bauchnabel einzuziehen, um einen Hohlraum zwischen Bauch und Matte zu schaffen.“ Aber wie zur Hölle soll das funktionieren? Die Pilates-Trainerin vorne kann das wahrscheinlich spielend leicht, aber für mich sieht das unmöglich aus. Mein Bauch ist definitiv nicht so durchtrainiert wie ihrer. Genau genommen wölbt er sich nach außen statt nach innen. Ich könnte also einfach auf der Matte liegen bleiben und es würde keinen Unterschied machen. Aber ich nehme das mal mit Humor und die Trainerin auch. Sie lacht herzlich, als sie meinen belustigten Blick bemerkt und sagt entspannt: "Naja, das ist nicht bei jedem anatomisch möglich." Genau das denke ich auch! Trotzdem gebe ich mein Bestes und es fühlt sich gut an, auch wenn mein Bauch keinen Zentimeter von der Matte abhebt.

Wie wichtig ist ein perfekter Körper?

Vielleicht sollten wir an dieser Stelle erst einmal die Frage klären, was ein perfekter Körper eigentlich ist. Immerhin ist das Schönheitsideal wandelbar, wie uns ein Blick in die Geschichte oder in andere Kulturen sofort zeigt. Von richtig dünn in der 1960ern hin zu ausladenden Hintern in den 2020ern. Man könnte auch sagen, von von Twiggy zu Kim Kardashian. Oder auch von richtig dünn in den westlich geprägten Ländern hin zu schön mollig in manch afrikanischen Kulturen. Und gerade habe ich gehört, dass ein männlicher runder Bauch in Bolivien Zeuge für die guten Kochkünste der Ehefrau sei. Ist das nicht eine schöne Interpretation? Ich hoffe natürlich, dass es anderherum ähnlich ist.

Die hiesige Boulevardpresse scheint sich hingegen nur für die angesagten wohlgeformten Körper und Gesichter zu interessieren. Es ist erstaunlich, wie oft wir über die Trainings- und Ernährungsgewohnheiten von prominenten Menschen lesen. Aber für sehr viele von uns gehören täglicher Sport und perfektes Aussehen nicht zum Alltag. Wir haben nicht die Zeit, uns neben unserem Job und unserer Familie ständig um unsere Figur zu kümmern oder zur Beauty-Behandlung zu gehen. Deshalb sollten wir uns auch nicht an diesen Frauen messen. Es gibt so viele normale Frauen da draußen, und das ist in Ordnung so. Nur sieht man sie eher selten in den Medien.

Ich denke an meine Pilates-Trainerin, die Sport zu ihrem Beruf gemacht hat. Sie trainiert jede Woche unglaubliche 25 Stunden. Das sind in guten Zeiten 22 und in schlechten Zeiten 25 Stunden mehr als ich. Aber will ich das wirklich? 25 Stunden Sport pro Woche? NEIN!!! Das wäre viel zu anstrengend und außerdem habe ich einen tollen Job, der sich zwar nicht auf meine Figur auswirkt, aber dennoch positiv auf mein Wohlbefinden ausstrahlt. Wir sollten uns nicht von den Schönheitsidealen der Boulevardpresse stressen lassen, sondern uns auf das konzentrieren, was uns glücklich macht.

Wie wichtig ist ein perfekter Körper für guten Sex?

Gute Frage. Gar nicht. Einfach gar nicht. Wer sich nur auf der körperlichen Ebene befindet, verpasst das Beste! Guter Sex macht sich dann bemerkbar, wenn sich ein Mensch wirklich gesehen und wahrgenommen fühlt. Da geht es um Bedürfnisse, um Nähe, um Intimität und vor allem ums Begehren. Sogar dann, wenn es sich nur um einen One Night Stand handelt. Und nichts gegen einen ONS, manche Menschen können hier gerade viel besser loslassen als in Beziehungen, wo es vielleicht um etwas geht.

Liebe zu machen bedeutet, den anderen zu lieben - das sollten wir uns immer vor Augen halten. Leider setzen wir uns oft selbst unter Druck und machen uns Gedanken darüber, ob unser Körper perfekt ist oder nicht. Das ist jedoch schade, da es uns daran hindert, den Moment zu genießen und uns fallen zu lassen. Und das ausgerechnet beim Sex! Statt zu genießen und all die wunderbaren Gefühle wahrzunehmen, sind wir in Gedanken bei unseren vermeintlichen Problemzonen. Beim Sex sind aber gerade Männer von den erotischen Reizen ihrer Partnerin viel zu abgelenkt, um sich auf vermeintliche Problemzonen zu konzentrieren. Oder wie es ein Klient einmal so schön formulierte: „Wo wackelt es beim Sex denn nicht? Und das ist doch mit das Beste daran!“

Jemanden zu lieben bedeutet zu sehen, wer die andere Person wirklich ist

Lieben umfasst sowohl emotionale als auch körperliche Aspekte. Und Schönheit liegt im Auge des Betrachters und das gilt auch für unsere Partner und Partnerinnen. Es ist wie ein Kreislauf, der sich nach oben schraubt: Eine Frau, die das sichere Gefühl hat, auf ihren Partner unwiderstehlich zu wirken, kann sich ihrer Erregung hingeben. Und eine Frau, die sich hingibt und sich ganz auf ihren Partner einlässt, ihm das Gefühl gibt, dass sie ganz bei ihm ist - das ist es, was einen Mann wirklich anmacht. es geht nicht um den perfekten Körper. Es sei denn, dass wir einfach nur Sex haben, der nicht in eine Beziehung eingebettet ist. Vielleicht kennen wir einander auch gar nicht. In dem Fall zählt die körperliche Attraktivität sicherlich mehr, da es kein emotionales Gegengewicht gibt.

Aber mal eben so loszulassen und sich hinzugeben ist leichter gesagt als getan. Ich weiß. Deswegen ist es auch so oft Thema in den Gesprächen in meiner Praxis. Scham ist dabei auch ein großes Thema. Und wenn ein Partner anderseits ständig das Aussehen des anderen bemängelt, sollten wir uns fragen, was wirklich dahinter steckt. Meistens liegen ganz andere Unzufriedenheiten im Verborgenen. Auch das erlebe ich immer wieder. Letztendlich geht es darum, den anderen zu lieben und die Freude am Lieben und an der Sexualität zu teilen.

Einfach Mensch sein dürfen

Von vielen Kollegen und Kolleginnen werden TV-Formate wie Germany's Next Topmodel, aber auch alle Nackt- und Vorführ-Shows (wie ich sie nenne) kritisiert. Zu recht, wie ich finde. Hier werden Frauen als auch Männer auf ihre Körperlichkeit reduziert und viel zu oft auch auf sehr unangenehme und einprägsame Weise kritisiert. Ich war mittelschwer schockiert, als ich neulich beim Zappen auf ein Format stieß, bei dem nacheinander weibliche und männliche Brüste und Genitalbereiche wie in einer mittelalterlichen Fleischbeschau bewertet wurden und anschließend die Personen erst komplett nackt und dann angezogen gezeigt wurden. Beschämend, das war das Wort, das mir dazu einfiel.

Aber es geht zum Glück auch anders. Als ich 2014 von der Initiative „Women Enough“ aus den USA hörte und die Bilder sah, war ich sofort begeistert. Es war relativ neu, dass sich ganz normale Frauen nackt und unverstellt zeigten, mit all ihren individuellen Formen und Größen. Sie strahlten durch ihre Persönlichkeit und zeigten damit, dass man kein perfektes Aussehen braucht, um selbstbewusst und schön zu sein. Diese Art von Selbstakzeptanz und Körperpositivität brauchen wir unbedingt mehr in unserer Gesellschaft. Zum Glück haben sich seitdem immer mehr Menschen auf den Weg gemacht. Unter #mybodyisabikinibody stellen Frauen Bikini-Fotos ein. Und ich bin ein großer Fan von Celeste Barber geworden, die die oben erwähnten Stars in ihrer unnachahmlichen Art, ja, eben nachmacht.

Anja Drews
 

Als Dipl.-Sexualpädagogin, Sexualtherapeutin und Sexualwissenschaftlerin unterstütze ich Menschen dabei, ihren ganz eigenen Weg in dieser wohl spannendsten und vielfältigsten Seite unseres Lebens zu finden. Meine Arbeit erfüllt mich mit großer Freude und begeistert mich immer wieder aufs Neue! Ausführliche Informationen über mich findest du hier auf der Seite.

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