Die rote Karte für den Geschlechtsverkehr – Verlängerung für das Vorspiel!

Da war es wieder, eines dieser aufschlussreichen und höchst interessanten Gespräche, die sich nicht nur privat, sondern manchmal auch in der Praxis so oder so ähnlich ergeben. Sie hatte am Abend vor dem Gespräch ein vielversprechendes Date und ich war entsprechend gespannt, wie es denn gelaufen war.

„Und, wie war es, hattet ihr Sex?“
„Nein, leider nicht.“
„Auch nicht geknutscht?“
„Doch, klar, und das war richtig schön!“
„Aber mehr ist nicht gelaufen?“
„Doch“, ein verträumter Blick, „es ist mehr gelaufen.“
Manchmal muss man Menschen die wichtigen Informationen wie Würmer aus der Nase ziehen.
„Was war denn noch so?“ Nein, ich bin gar nicht neugierig….
„Na ja, wir haben alles gemacht – nur keinen Sex.“

Hä? Alles, nur keinen Sex? Alles klar, ich verstand. Sie hatten sehr wohl Sex, nur keinen Geschlechtsverkehr, keine Penetration, kein Penis-in-Vagina-Sex. Ein typisches Kommunikationsproblem. Am Ende hatte diese Frau sogar einen Orgasmus! Großartig! Und er vermutlich auch, aber danach habe ich dann nicht mehr gefragt.

Sex ist mehr als Geschlechtsverkehr

Ich begegne diesem Phänomen häufiger - Sex wird eins zu eins mit Geschlechtsverkehr gleichgesetzt. Bereits Bill Clinton versuchte sich auf diese Weise aus der Affäre zu ziehen. Keine Penetration, kein Sex - für Hillary war das vermutlich wenig tröstlich. Das Vorspiel und das Nachspiel werden sprachlich wie schmückendes Beiwerk behandelt:
Vorspiel - SEXSEXSEXSEXSEX - Nachspiel.

Betrachtet wird das Vorspiel dabei oft nur als Vorbereitung auf den eigentlichen Akt, den Geschlechtsverkehr. Oder wie ein Klient es einmal formulierte: „Ich dachte, das Vorspiel sei nur dafür da, die Frau aufzuwärmen.“ Ein klassischer Fall von Fehlinformation. Und auch so schade, denn da entgeht einem doch das Beste! Zumindest Frauen erleben höchsten Genuss inklusive Höhepunkt viel eher bei allem anderen als dem reinen Penis-in-Vagina-Sex. Oder wie es eine Klientin formulierte: „Alles ist schön, entspannt und erregend. Aber sobald er seinen Penis einführt, galoppiert er mir davon und ich komme mit dem Fühlen nicht mehr hinterher.“ Dann auch noch das: Sobald Mann seinen Höhepunkt erreicht hat, geht das Liebesspiel oft abrupt zu Ende, wobei der Orgasmus der Frau häufig auf der Strecke bleibt.

Und auch das Nachspiel, das für viele Menschen einen hohen emotionalen Wert hat, wird vernachlässigt. Fertig, umdrehen, einschlafen. Das wiederum mag an der Hormonlage von sexgesättigten Männern liegen oder ganz einfach nur daran, dass viele Menschen Sex auf den allerletzten Drücker kurz vorm Einschlafen noch schnell „erledigen“ möchten. Man hört meine leise Kritik schon heraus, aber das ist ein anderes Thema.

Penetration ist für den Männerorgasmus prima, aber was ist mit den Frauen?

Je nach Studie kommt nur ungefähr ein Drittel aller Frauen durch alleinige Penetration zum Orgasmus. Und bei noch viel weniger Frauen ist dies regelmäßig der Fall. Das setzt nicht nur Frauen selbst, sondern auch Männer unter Druck. Der Höhepunkt beim Geschlechtsverkehr wird oft als das große Finale des Liebesspiels angesehen und stellt scheinbar die Qualitäten eines guten Liebhabers oder einer guten Liebhaberin unter Beweis. Der gleichzeitige Orgasmus, und dabei bitte nicht die Hände benutzen, bekommt dann sogar noch ein extra Sternchen. Sobald dieser erreicht ist, scheint die Prüfung bestanden und - herzlichen Glückwunsch! Dabei kann Sex ohne Penetration und auch ohne Orgasmus ganz wunderbar erfüllend sein.

Hier wird eine klitzekleine Kleinigkeit übersehen. Wobei diese Kleinigkeit gar nicht so klitzeklein ist, wie viele Menschen noch immer glauben. Es geht um die Klitoris, dieses bezaubernde Organ, dessen einzige Aufgabe es ist, Frauen Lust zu verschaffen. Sichtbar ist die Klitoriseichel, diese kleine Lustperle, die sich an das obere Ende der inneren Vulvalippen schmiegt. Hier laufen um und bei 8000 Nervenenden zusammen. Und jetzt möge man sich bitte einmal vorstellen, wieviel dichter dieses Nervengeflecht ist als in einer so viel größeren Peniseichel, in der sich ungefähr genauso viele Nervenenden befinden.

Während sich allerdings die Peniseichel beim Geschlechtsverkehr mitten im Geschehen befindet, bleibt die Klitoriseichel schön außen vor. Wobei die Lage der Perle von weiter außen bis nah dran am Scheideneingang von Frau zu Frau variiert. An dieser Stelle erlaube ich mir ein kleines Gedankenexperiment: Man stelle man sich bitte einmal vor, man würde die Peniseichel mit Schaumstoff abkleben und diese bekäme nun auch nicht mehr so viel von der Reibung ab. Wie lange würde es wohl bis zum männlichen Orgasmus dauern?

Nun kann man in bestimmten Stellungen auch die Klitorisperle mit stimulieren. Frauen sitzen hierfür gern oben, weil sie hier ihr Becken vor- und zurückschieben können. Aber es sollte auch völlig normal sein, Hände oder ein Sextoy zu benutzen statt zu denken, das wäre dann ja kein echter Orgasmus. Man könnte auch die gesamte Klitorisstruktur, die sich mit ihren Schenkeln und Schwellkörpern durch die Vulva bis zum Scheideneingang und in das Becken hinein erstreckt, stimulieren. Und zwar ausgiebig und mit viel Fingerfertigkeit! Meine geschätzte Kollegin Yella Cremer hat hierfür eine anschauliche Kurzanleitung entwickelt.

Pornos engen ein und machen Druck

Pornos tragen aus meiner Sicht maßgeblich dazu bei, dass das Bild von Sex auf Geschlechtsverkehr reduziert wird. Die heterosexuellen Mainstream-Pornos konzentrieren sich vor allem auf Fellatio, Cunnilingus und Penetration in allen erdenklichen Positionen. Dabei wird das Bild eines Mannes vermittelt, der jederzeit erregt und potent ist. Gleichzeitig wird suggeriert, dass Frauen genau das wollen und immer zum Orgasmus kommen.

Obwohl den meisten Konsument*nnen bewusst ist, dass Pornografie nicht die Realität abbildet, bleibt der Eindruck von Omnipotenz bei beiden Geschlechtern hängen. Das wiederum steigert Leistungsdruck und Versagensängste auf beiden Seiten. „Hoffentlich versage ich nicht“, „Hoffentlich klappt es dieses Mal“ sind dann schnell festsitzende Gedanken zu den Themen Erektion und Orgasmus. Immerhin sind in Pornos keine schlaffen Penisse zu sehen oder Frauen, die keinen Orgasmus bekommen oder die womöglich sogar Nein oder Stop sagen.

Aus der Praxis geplaudert: Wenn Menschen mir sagen, dass sie ganz genau wissen, dass Pornos Filme sind und Darsteller*innen eben Darsteller*innen (und auch in Amateurpornos laufen Kameras und derer sind sich die Menschen dort durchaus sehr bewusst), dann antworte ich gerne mit dieser kleinen Geschichte: „Wenn ich Jurassic Park gucke, weiß ich auch ganz genau, dass Dinosaurier schon sehr lange ausgestorben sind. Trotzdem sehen meine Augen auf der Leinwand ebensolche Dinosaurier über eine Wiese spazieren. Da kann ich mir zehnmal sagen, dass sie nicht mehr existieren. Meine Augen sehen nicht die digitalen Tricks, sie sehen echte Dinosaurier. Und diese Bilder bleiben hängen."

Ein Hoch auf Bridgerton und Co? Mitnichten

Bei dem Gedanken muss ich gleich nochmal loslegen. Es sind ja nicht nur Pornos, die unsere Vorstellung von "richtigem" Sex prägen. Die männliche als auch die weibliche. Kennen Sie die Serie Bidgerton? Welche der drei Staffeln ich meine? Total egal! Es ist überall dasselbe: Endlich haben sie zueinander gefunden. Sie hat keine Ahnung, was nun kommt, er ist natürlich ein erfahrener Liebhaber. Sie küssen sich leidenschaftlich, die Klamotten fallen zu Boden (was hier aufgrund der vielen Lagen Stoff etwas länger dauert), sie stürzen ins Bett. Er dringt ein, bewegt sich drei- bis fünfmal und fertig. Erschöpft und glückselig sinken sie in die Kissen. Klarer Fall von vorzeitigem Samenerguss sage ich da nur.

Und dann kommen Frauen in die sexualtherapeutische Praxis, weil sie denken, mit ihnen stimme etwas nicht, weil sie bei dieser Art von Sex keinen Orgasmus bekommen. Würde ich auch nicht, ehrlich gesagt. Szenen dieser Art finden sich zuhauf im Fernsehen. Oder in romantischen Büchern, wo sich Menschen in "atemberaubende Höhen hinaufschaukeln". Meiner Meinung nach wird Sex hier doch sehr einseitig dargestellt. Und natürlich fehlerfrei. Was würde ich dafür geben, bei einer solchen Produktion die Sex-Drehbücher zu schreiben! 

Sex ist so viel mehr als nur Geschlechtsverkehr!

Es geht beim Sex viel um Nähe, Intimität und Lust, ums Begehren und Begehrtwerden, um Spaß und Vergnügen. Manchmal geht es um Familienplanung oder ums Geldverdienen. Es gibt aber auch noch viele andere Motive. Das Institut für Psychologie der Universität von Texas in Austin ist in einer Umfrage auf sage und schreibe 237 Gründe für Sex gekommen! Den meisten Menschen fallen vielleicht zehn Gründe ein. Da könnte man sich direkt mal fragen, warum habe ich eigentlich Sex? Welche Bedürfnisse stecken wirklich dahinter? Ist es immer die pure Lust? Oder möchte ich mich vielleicht der Liebe meiner Partnerin versichern? Habe ich Sex, weil ich glaube, das gehöre nun mal zu einer Partnerschaft dazu? Möchte ich mich nach einem stressigen Arbeitstag entspannen? Und wenn es dann nicht klappt, einen Penis lange genug in einer adäquaten Lage in einer Vagina zu positionieren, haben wir ein großes Problem. Alles übrigens Themen aus meiner Praxisarbeit.

Davon sollten wir uns aber nicht entmutigen lassen. Konzentrieren wir uns doch lieber auf die vielen anderen Möglichkeiten, die uns Sex bietet. Das Vorspiel ist ein wichtiger Bestandteil des Liebesspiels und sollte als gleichwertig betrachtet werden. Es gibt unzählige Möglichkeiten, sich gegenseitig zu erregen und zu befriedigen, ohne sich auf die Penetration zu beschränken. Davon wiederum schwärmen die Menschen, die sich aus der klassischen Trilogie gelöst haben und sich frei miteinander vergnügen. Oder die von vorne herein ohne Penis ins Rennen gehen.

Viel zu oft noch setzen wir uns und unsere Partner*innen unter Druck, indem wir den Fokus nur auf den Akt des Geschlechtsverkehrs legen und dabei denken, dass dieser der einzige Weg ist, um sexuelle Befriedigung zu erlangen. Doch das ist eben ein Trugschluss. Wenn die Erektion nicht mitspielt oder eine Frau Schwierigkeiten hat, einen Orgasmus zu bekommen oder gar Schmerzen bei der Penetration verspürt, führt dieses Denken dazu auch noch häufig zu Frustration und Enttäuschung.

Raus aus dem klassischen Sex-Ablauf: Die KFR-Formel

Manchmal bin ich ja etwas salopp. Aber Übertreibung macht anschaulich. Und so habe ich den klassischen Sex-Ablauf mal auf eine knackige Formulierung zusammengedampft: KFR steht für „Knutschen, Fummeln, Reinstecken“. Das ist es doch, wie wir Sex lernen und am Anfang auch erfahren. Schon im Schulunterricht geht es vor allem darum, Schwangerschaften und sexuell übertragbare Infektionen (STI) zu vermeiden und wir hören früh, dass das erste Mal für Mädchen schmerzhaft sei. Man merkt, auch hier liegt der Fokus auf der Penetration. Die Formel könnte man hier direkt auf KfR umschreiben. Auch in vielen Filmen wird geknutscht, kaum gefummelt und dann geht es im Nullkommanichts zur Sache und noch schneller kommen dabei beide zum Höhepunkt (ausgenommen Shades of Grey, aber das ist schon wieder ein anderes Thema). Auch diese Bilder setzen sich fest und Frauen kommen gleich wieder ins Defizitdenken.


Wie wäre es stattdessen mit KFrfKRffkrFF?Frei ausprobieren, sich treiben lassen, herumflanieren. Der Weg ist das Ziel. Und wenn es dann noch den einen oder anderen Orgasmus gibt, herrlich! Alles ohne Druck, weil es einfach so schön ist, alles zu fühlen!

Was, wenn Sex wie ein Festival wäre?

Stellen wir uns doch einmal vor, Sex wäre wie ein Festival und nicht wie ein klassisches Konzert mit Vorband. Letztere übrigens ist tatsächlich zum Aufwärmen des Publikums da. Also endlich weg mit diesem Gedanken! Auf einem Festival gibt es viele Bühnen, spielen viele Bands. Manchmal gibt es einen Hauptakt, manchmal mehrere. Und manchmal entdeckt man unter den unbekannteren Bands ein wahres Juwel. Und man kann von einer Bühne zur nächsten flanieren, dabei die Pausen zelebrieren und viel länger Spaß haben! 

Das bedeutet natürlich nicht, dass ich grundsätzlich gegen Ein-Band-Konzerte wäre. Wenn wir uns jedoch von dem Gedanken befreien, dass der Geschlechtsverkehr der Hauptakt und der Orgasmus das einzige Ziel sind, und wir uns stattdessen auf Lust und Vergnügen konzentrieren, können wir eine tiefere Verbindung zu unserem Partner oder unserer Partnerin aufbauen und den Sex auf eine entspannte und befriedigende Weise genießen. Liebeskunst statt Leistungsdruck. Verbannt also den Druck und die Erwartungen und lasst Eurer Fantasie freien Lauf!

Anja Drews
 

Als Dipl.-Sexualpädagogin, Sexualtherapeutin und Sexualwissenschaftlerin unterstütze ich Menschen dabei, ihren ganz eigenen Weg in dieser wohl spannendsten und vielfältigsten Seite unseres Lebens zu finden. Meine Arbeit erfüllt mich mit großer Freude und begeistert mich immer wieder aufs Neue! Ausführliche Informationen über mich findest du hier auf der Seite.

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